Hamburg, Germany - Marz 5. 2020: Farmers are demonstrating in Hamburg, blocking the streets in the city of Hamburg with their tractors

Bürokratie-Tsunami gegen die Landwirtschaft

Nachhaltigkeitsberichtspflichten als Streichholz für das Pulverfass?

Bei den aktuellen Protesten der Bäuerinnen und Bauern wundern sich viele Stimmen, warum sich die Landwirt:innen wegen einer „so kleinen Streichung von Subventionen“ aufregen. Die Einführung der Kfz-Steuer für Landmaschinen ist ja zurückgenommen, die Dieselsubvention wird stufenweise abgeschafft. „Seid doch zufrieden, was wollt Ihr denn noch?“ Was ist der wirkliche Kern der Proteste? Der „Aufreger“ ist, dass den Bäuerinnen und Bauern von Staat, Gesellschaft und abnehmender Hand bereits so viele Pflichten und Forderungen auferlegt wurden, dass das Agrardiesel-Thema der berühmte Tropfen ist, der das Fass zum Überlaufen bringt. Ich traue mich kaum es zu sagen: Als nächstes kommt ein Kübel in das volle Fass der Landwirtschaft: Die gesetzlichen Nachhaltigkeitsberichtspflichten der größeren Unternehmen der abnehmenden Hand!!!

 

Wenn man einmal versucht die Dokumentations- und Berichtspflichten sowie die zugehörigen Anforderungen für das Wirtschaften eines durchschnittlichen Landwirtschaftsbetriebes aufzulisten, kommt man auf rund 40 verschiedene Themengruppen, zu denen die:der Landwirt:in Berichte und Dokumentation regelmäßig erstellen muss, die sich dabei auch auf die Wirtschaftsweise auswirken. Nur spontan einige Beispiele:

 

  • „Betriebsbuchführung, Nachweise und Dokumentationen für die Direktzahlungen, vielfältigste Nachweise und Dokumentationen für die GAP Säule 2 (ländliche Entwicklungsmaßnahmen), Dokumentation der Einhaltung der Vorschriften zum Gewässerschutz, Tierschutz und Arbeitsschutz, Maßnahmen zur Betriebshygiene, für die abnehmende Hand: Zertifizierungen von Qualitätsstandards und Ermöglichung von externen Audits, Dokumentation der Rückverfolgbarkeit, Nachweis von Pflanzenschutzmittel-Rückstandsanalysen, Dokumentation von Liefervereinbarungen, Mengen- und Ernteplanungen, korrekte Lieferpapiere etc.“

 

Und nun droht der „Overkill“! Ab diesem Jahr gilt für große Unternehmen, ab 2025 für mittlere bis größere Unternehmen, die Nachhaltigkeitsberichtspflicht gemäß CSRD (Corporate Sustainability Reporting Directive) der EU! Sehr viele Geschäftspartner der deutschen Landwirt:innen fallen unter diese Kategorie der berichtspflichtigen Unternehmen. Wer den neuen Berichtsstandard ESRS (European Sustainability Reporting Standard) kennt, nach dem die Unternehmen berichten und sich prüfen lassen müssen, weiß, dass über die Partner in der Lieferkette dezidiert berichtet werden muss. Ich habe mir die Mühe gemacht den ESRS (338 Seiten) durchzuarbeiten und alle Anforderungen rauszufiltern, die die berichtspflichtigen Unternehmen anhalten ihren Lieferanten Forderungen zu stellen. Aus Sicht der Lebensmittelwirtschaft, dem –Einzel und Großhandel, dem Agrarhandel, der Saatgutwirtschaft und anderen verarbeitenden Betrieben sind nach meinen Erkenntnissen acht neue Themenbereiche hinzugekommen, die konkrete Forderungen an Wirtschaftsweise und Dokumentation für die Landwirtschaft bedeuten! Folgende Verpflichtungen können durch ihre Abnehmer neu auf sie zukommen:

 

Die:der Landwirt:in muss…

  • …in Scope 1 und 2 eine Klimabilanz ermitteln und berichten, sowie Maßnahmen zur Reduzierung des CO2-Fußabdrucks einleiten (ESRS E1-6)
  • …den Bericht in Ergänzung zur Dokumentation „Säule 2 Umwelt- und Klimamaßnahmen“ nach Luft/Wasser/Boden neu strukturieren und diese Daten jetzt neu an die Abnehmer gemäß deren Anforderungen liefern (ESRS E2-4)
  • …ggf. seine Daten zum Gewässerschutz neuerdings dem Abnehmer offenlegen (z.B. zusätzlich auch Daten des Wasserverbrauchs mit Reduktionsmaßnahmen) (ESRS E3-4)
  • …ggf. seine Daten zur Dokumentation „Säule 2 Umwelt- und Klimamaßnahmen“ bezüglich Biodiversität und Ökosysteme neu strukturieren und hierzu detailliert dem Abnehmer offenlegen (ESRS E4-3)
  • …eine Abfallbilanz erstellen und dem Abnehmer offenlegen (ESRS E5-4 und -5)
  • …seine Beschäftigungssituation dem Abnehmer offenlegen, ggf. nach Beschäftigungsart (Erntehelfende etc. mit Vertragsart) (ESRS S2-2)
  • …regelmäßig über die Einhaltung der Arbeitnehmerrechte bei seinen internen und externen Beschäftigten berichten (ESRS S2-3)
  • …ggf. Vorgaben bezüglich der Beschäftigten durch die Abnehmer akzeptieren und die Einhaltung nachweisen (ESRS S2-4)

 

Wie genau ich diese Punkte hergeleitet habe finden Sie in der dreiseitigen Studie, die Sie hier herunterladen können. Eine Zusammenfassung des ESRS selbst können Sie hier herunterladen.

 

Die meisten berichtspflichtigen Unternehmen der abnehmenden Hand müssen ab den Geschäftsjahren ihren Bericht erstellen und prüfen lassen, die im Jahr 2025 beginnen. Es gibt für kleinere dieser Unternehmen einige Übergangsfristen, aber in den folgenden Jahren muss die Landwirtschaft damit rechnen, dass o.g. Anforderungen auf sie zukommen.

 

Wie kann man nun die Folgen für die Landwirte abmildern? Die EU-Kommission hatte ursprünglich vor, einen erleichterten Berichtsstandard für die Land- und Lebensmittelwirtschaft bis zum Ende des letzten Jahres zu erstellen. Inzwischen will man wohl diesen sogenannten „Set 2 des ESRS“ weiter bis mindestens 2026 vertagen, „um zu sehen, wie der allgemeine ESRS auf die Wirtschaft wirkt.“ Mit anderen Worten: Von der Politik sind zunächst keine weiteren Erleichterungen zu erwarten.

 

Die einzige Lösung ist nun, ein einheitliche Berichtsvorgehen in der deutschen Landwirtschaft zu erreichen. Die:der Landwirt:in muss zumindest in einem einheitlichen Standard die neuen Berichtspflichten erfüllen können, wobei die Kammern erhebliche Unterstützung leisten müssen. Der bereits erarbeitete Nachhaltigkeitscodex der Landwirtschaftskammern ist ein guter Ansatz. Dieser muss auf die Notwendigkeit der Berichtspflichten der abnehmenden Hand angepasst werden. Die Wirtschaftsverbände der Abnehmer der Landwirtschaft müssen hier eng zusammenarbeiten, um kurzfristig Tools zu schaffen, die die notwendigen Daten für die Nachhaltigkeitsberichterstattung generieren, ohne dass die Landwirt:innen für jeden einzelnen Abnehmer separate Berichte verfassen müssen. Hier ist ein kräftiger Digitalisierungsschub mit Pool-Datenbanken und unabhängigen Stichprobenprüfungen erforderlich.

 

Gerne stehe ich der deutschen Agrar- und Ernährungswirtschaft als neutraler Fachmoderator zur Verfügung eine umgehende Initiative zu starten, die für die Zukunft eine einfache und abgestimmte Nachhaltigkeitsberichterstattung ermöglicht. Sprechen Sie mich an!